Naturmed Praxis im Gespräch

Naturmedizin 6/2022

„ Zuwendung, Seelsorge und Liebe!“

Er kennt beide Welten, die Hightech-Medizin der Radiologie und Mikrotherapie und die Methoden der Naturheilkunde: Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer. Dieses Jahr wird er 70 Jahre alt, hat ein neues Buch geschrieben. Exklusiv für die Naturmed-Praxis hat er die Fragen von NMP-Redakteur Frank Aschoff beantwortet. Er gibt seine verdichteten Erkenntnisse aus über 4 Jahrzehnten Berufserfahrung weiter.
Auf Basis Ihrer großen Erfahrung haben Sie jetzt Maximen als Ihr Fundament beschrieben. Welche sind dies?
Ein konsequentes Handeln zum Wohlbefinden der Patienten und Patientinnen ist meine Forderung. Ärzte und Ärztinnen befinden sich heutzutage mehr denn je in einem Spannungsfeld zwischen den großen Möglichkeiten, die die Medizintechnik, Schul- und Naturmedizin und die Psychosomatik bietet, und der Empathie gegenüber den Patienten und Patientinnen. Auf dieser Grundlage ergeben sich die von mir beschriebenen Maximen: Erstens: Heilung braucht Zuwendung und Vertrauen. Zweitens: Medizin ohne Seelsorge ist keine Medizin. Drittens: Medizinische Kompetenz-Teams sind die Zukunft. Ich bin davon überzeugt: Wir müssen die Medizin wieder als Kulturgut begreifen, um die therapeutischen Traditionen der Heilkunst nutzen zu können.
 
Was könnten die ersten Schritte in Teams, in Krankenhäusern sein?
Die Stellung der Krankenpflegeberufe müssen wir deutlich aufwerten – inhaltlich, organisatorisch wie finanziell. Sie sehe ich als eine optimale Unterstützung und Partner für Ärzte und Ärztinnen, wenn ihr Status und die Wertschätzung ihrer Arbeit optimiert würden. Da Krankenschwestern und -pfleger zunehmend im ambulanten Bereich und in den Haushalten tätig sind, könnten sie aus meiner Sicht umfassendere Aufgaben übernehmen als bisher wie z.B. medizinische Aufklärung, präventive Maßnahmen wie Ernährungsberatung oder sogar Ultraschalluntersuchungen mit telemedizinischer Rückkoppelung zu Fachärzten. Sie würden den Hausarzt oder die Hausärztin entlasten und so Freiräume für ärztliche Behandlungsmaßnahmen und Gespräche schaffen. Sie würden quasi als Copilot des Hausarztes und als kontinuierliche tagtägliche Bezugspersonen für Patienten - als persönlicher Coach fungieren – auch im Notfall, vertrauensvoll, nah am Menschen.
 
Sie sind mit beidem vertraut: der Hightech-Medizin der Radiologie und Mikrotherapie und den Methoden der Naturheilkunde. Wie haben Sie konkret in Ihrem Spezialgebiet der Mikrotherapie bei Rückenleiden diese Welten zusammengebracht?
Die Mikrotherapie – die CT- und MRTnavigierte lokale Behandlung mit Mikroinstrumenten - folgt dem Ansatz „von leicht nach schwer“, Therapien werden grundsätzlich so geplant, dass sie Patienten so wenig wie möglich belasten. Dies fordert gerade die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit ein. Das heißt: interdisziplinäre fachärztliche Therapie unter einer Leitung. Physiotherapeutische, traditionelle, orthopädische, schulmedizinische und pflanzenheilkundliche medikamentöse und andere körperorientierte Verfahren begleiten die Behandlungen. Ich war vor Jahrzehnten einer der ersten, der im universitären Umfeld pflanzliche Rezepturen und die Akupunktur in schulmedizinische Behandlungen einbezogen hat. Schon zu Studienzeiten habe ich mit Akupunkturnadeln behandelt. Von Naturheilkundlern lernte ich Massagetechniken wie Akupressur Triggerpunkt-, Muskel-, Bindegewebs- und Reflexzonenverfahren.
 
Sie erwähnen in ihrem Buch ihren leider geplatzten Traum der Gründung eines Nationalen bzw. europäischen Gesundheitszentrums. Was war der Kerngedanke? Welche aktuellen Probleme könnten so besser angegangen werden?
Ich hatte diese Pläne 1997 entwickelt, Grundgedanke war ein Zentrum analog zu den National Institutes of Health in den Vereinigten Staaten. Mir geht es bei diesem Vorschlag darum, die multidisziplinären medizinischen und medizinnahen Kompetenzen, Institutionen und Therapeuten – auch auf Forschungsebene – zu bündeln und real, virtuell und digital national und europaweit zu vernetzen.
Dabei ist die Unterschiedlichkeit europäischer Gesundheitssysteme meiner Meinung nach kein Hindernis, sondern vielmehr eine Chance. Seine Vielfalt könnte Europa viel zielgerichteter und schneller nutzen, wenn die Mitgliedstaaten bereit wären, bewährte Verfahren von anderen zu übernehmen. Auch der Transfer von digitalen Techniken und die schnelle Vergütung von Innovationen wären so möglich. Ich glaube, dass uns diese Zusammenarbeit in der Corona-Krise sehr geholfen hätte.
 
Viele unserer Leser:innen sind Hausärzt:innen. Sie sehen im Hausarztsystem Zukunft. Was ist ihre Vision?
Ich bin sicher, dass Hausärzte und -ärztinnen eine zentrale Stellung im System haben müssen. Sie sind die ersten Ansprechpartner für Menschen, die krank werden. Wer könnte besser die Rolle des „Gesundheitsmanagers“ für den Patienten übernehmen? Wer sonst verfügt über das nötige umfassende „persönliche“ Fachwissen? Wer sonst könnte über die modernen Möglichkeiten zur Vorsorge und Therapie informieren? Ich sehe Hausärztinnen und -ärzte deshalb als Wegweiser, die den Weg zu den geeignetsten Angeboten aufzeigen, die Angst vor dem oft als bedrohlich empfundenen Medizinsystem nehmen und Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Sie könnten die dringend benötigten Präventologen im System sein, die individuell Krankheiten verhindern. Sie verbinden zwei wichtige Dinge: die Vertrautheit mit dem Patienten und das Wissen um die wachsenden Möglichkeiten einer komplexen Behandlung.
 
Sie sind der Digitalisierung gegenüber sehr aufgeschlossen. Was kann sie uns vor allem in den nächsten Jahren bringen?
Was die Digitalisierung zu leisten im Stande gewesen wäre, hat die Pandemie gezeigt: Nachverfolgung von Erkrankten und Geimpften, Austausch von Patientendaten und Gesundheitsinformationen zum individuellen Zustand, um zu lernen und Behandlungen zu optimieren. Gesundheits-IT würde endlich die digitale, nachhaltige und sektorenübergreifende Versorgung, eine Vernetzung zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich mit Hausärzten und Gesundheitsämtern ermöglichen können. Durch digitale Patientenakten könnten Doppeluntersuchungen oder zu späte Behandlungen vermieden werden. Andererseits könnte sichergestellt werden, dass keine notwendige Aufklärung, Untersuchung oder Therapie vergessen wird. Am besten gelingt das, wenn alle Daten zentral und sicher gespeichert werden – und der Patient/die Patientin selbst entscheidet, wer welche Daten in welchem Fall nutzen darf.
 
Sie zitieren in Ihrem Buch Paracelus: „Das höchste Heilmittel ist die Liebe.“ – und betonen die Wichtigkeit von Verbundenheit. Wie können wir diese Verbundenheit ganz konkret wiederfinden?
Wir müssen uns auf das konzentrieren, was uns in diesem Beruf wichtig ist. Es ist der Wunsch, Menschen zu heilen, ihnen Wohlbefinden zu ermöglichen, sie in einer schwierigen medizinischen Lage zu unterstützen. Dafür müssen wir den Menschen in seiner Gesamtheit sehen – und um dies zu tun, müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen wie Zeit und Entlohnung geschaffen werden. Gesundheit hat immer auch mit persönlicher Befindlichkeit, Geschichte und Lebensentwurf zu tun. Also ist sie stets relativ auf den konkreten Menschen hin zu fassen. Das bedeutet, dass sie und das momentane wie das langfristige persönliche Wohlbefinden jeweils von Arzt und Patient gemeinsam erarbeitet werden müssen. Die Zukunft gehört einer sprechenden, hörenden und mitfühlenden Medizin als Grundlage einer liebevollen und humanen Weltmedizin – wie ich sie einmal getauft habe.
Quelle:

Prof. Dr. med. Dietrich Grönemeyer Mediziner, Medizinunternehmer und Autor.

dietrich-groenemeyer.com

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