im Gespräch

Naturmedizin 4/2022

Osteopathie ist Teil einer ganzheitlichen Therapie

Herr Schöner, Osteopathie ist eine ganzheitliche Heilmethode, die nur mit den Händen stattfindet. Bei welchen Beschwerdebildern macht es für Ärzt:innen Sinn, eine osteopathische Behandlung zu empfehlen?
Das Behandlungsspektrum der Osteopathie ist sehr vielfältig und groß. Sehr gute evidente Nachweise zur Wirksamkeit gibt es v. a. im Bereich der Rückenbeschwerden. Aber die Osteopathie wird auch bei vielen weiteren Beschwerdebildern eingesetzt: Magen-Darm-Probleme wie z. B. Blähungen, postoperative oder -traumatische Nachbehandlungen, Epilepsie oder ganz aktuell sehr im Fokus: die Verbesserung der Atmung. Deutschmann et al. haben z.B. eine sehr interessante Studie veröffentlicht zur Wirkungsweise der Osteopathie nach einer Karpaltunneloperation. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass sich Osteopathie besonders eignet, wenn eine Operation ansteht: So beschreibt der belgische Osteopath Gert Roncada, dass etwa 30–50 % der Patient:innen, die eine Koronararterienbypass- Operation hinter sich haben, von chronischen Schmerzen im Thoraxbereich geplagt sind. Bei der Studie untersuchte er u. a., wie sich osteopathische Behandlungen darauf auswirken können. Das Ergebnis spricht für sich: Die Schmerzintensität war in der Gruppe, die osteopathische Behandlungen erhielten, 12 Wochen nach der Operation signifikant geringer. Ein Jahr nach der Operation zeigte sich in dieser Gruppe weiterhin eine signifikant geringere Schmerzintensität.
Aus meiner eigenen über 25-jährigen Erfahrung mit der Osteopathie kann ich sagen, dass Patienten häufig zu mir kommen, weil sie Probleme mit dem Verdauungstrakt oder langjährige, heftige Kopfschmerzen oder Migräne haben. Auch Patienten mit neurologischen Problemen kommen in meine Praxis.
Aber: Unsere Grenzen liegen ganz klar bei der Notfallmedizin, meldepflichtigen Krankheiten und chirurgischen Eingriffen.
 
Nehmen wir das Beispiel HWS-Syndrom. Wie würde eine osteopathische Herangehensweise aussehen?
Zunächst ist ein ausführliches Anamnesegespräch unerlässlich. Hilfreich und wichtig sind dabei natürlich auch Arztbefunde. Dann folgt die Erstuntersuchung: Hier arbeite ich mich von außen nach innen und von unten nach oben vor. Als erstes achte ich auf die Statik des Patienten, was die Bewegungsfähigkeit und die Haltung betrifft. Dazu gehören alle Gelenke, Muskeln oder Bänder. Dann wird die Struktur der Haut und der Gewebe in allen Schichten begutachtet. Als nächstes folgen die Organe, die Faszien und die Nerven in der Untersuchung.
Mich interessiert dabei, ob alle Teile des Körpers ihre physiologische Funktion ausüben oder nicht. Wenn z. B. vor vielen Jahren ein Problem am Sprunggelenk aufgetreten ist, kann sich durch Schonund Fehlhaltung über die Faszien eine falsche Belastung an Organen und der Statik des Körpers ergeben – und damit tauchen nun an der HWS Schmerzen auf. Erst, wenn diese Untersuchungen abgeschlossen sind, können wir feststellen, ob eine osteopathische Behandlung sinnvoll ist oder nicht.
Wichtig ist, dass wir rein mit den Händen arbeiten und keine Medikamente oder dergleichen verordnen. Osteopath:innen sind speziell darauf geschult, mit ihren Händen Blockaden aufzuspüren und diese sanft zu lösen. Unter Umständen kann es längere Zeit dauern bis der Körper sich daran gewöhnt hat, dass eine Stellschraube angepasst wurde. Oft ist es ja so, dass man z. B. eine Fehlhaltung auch nicht über Nacht einnimmt, sondern dass diese sich langsam einschleicht. Entsprechend braucht der Körper Zeit, um sich zu regenerieren.
Besonders hervorheben möchte ich hier noch einmal die Faszien – und die aktuelle Forschung. Lange Zeit wurden sie kaum beachtet, doch heute wissen wir, welch große Rolle sie bei unseren Körperstrukturen spielen.
Jedoch können auch emotionale Themen eine Rolle spielen. Jedes traumatische Erlebnis eines Menschen hinterlässt Spuren, die sich im Körper als spürbare Probleme zeigen können. Dazu gehören z. B. Unfälle, Stürze, Kindheitserlebnisse. Daher ist der Blick der Osteopathie immer ganzheitlich auf den gesamten Menschen gerichtet.
 
Bei Osteopathie denken viele erst mal nur an orthopädische Krankheitsbilder. Aber auch im Bereich der Gynäkologie und Pädiatrie gibt es Einsatzmöglichkeiten. Können Sie Beispiele nennen?
Ein großes Problem für Schwangere kann der Ischiasnerv sein. Wenn der sich kurz vor dem Entbindungstermin meldet, ist es eine starke Belastung für die werdende Mutter. Da kann Osteopathie sehr gut helfen, Schmerzen zu lindern. Oder bei einer Sectiogeburt. Hier können sich in der Folgezeit beim Kind Beschwerdebilder ergeben, die man auf den ersten Blick nicht mehr unbedingt mit der Geburt in Verbindung bringt: z. B. eine Mittelohrentzündung oder bronchiale Probleme.
 
Ist der Beruf des Osteopathen geregelt und wie sieht die Ausbildung aus, wie ist die rechtliche Situation in Deutschland?
Obwohl wir in Deutschland mehr als 10.000 osteopathische Therapeuten und Ärzte zählen, die jährlich gut 10 Millionen Patientenkontakte haben, ist der Beruf „Osteopath:in“ in Deutschland nicht geregelt.
Wir kämpfen seit über 20 Jahren für ein Berufsgesetz – und konnten sogar erwirken, dass die Gesundheitsministerkonferenz 2016 beschlossen hat, dieses Anliegen zu prüfen. Die Dringlichkeit bestätigten die Gesundheitsminister der Länder auch 2019 noch einmal.
Ein Berufsgesetz ist deshalb essenziell, da es für Sicherheit sorgt: Es gibt den Osteopath:innen Sicherheit, dass sie die Heilmethode in einem gesetzlich verankerten Rahmen anwenden. Es sorgt ebenso für wirtschaftliche Sicherheit. Und last but not least natürlich auch für die Sicherheit der Patient:innen. Denn so ist ihnen garantiert, dass dort, wo „Osteopathie“ draufsteht, auch „Osteopathie“ drin ist.
Wir haben federführend zusammen mit anderen Verbänden unter der Dachorganisation der Bundesarbeitsgemeinschaft Osteopathie (BAO) ein Curriculum ausgearbeitet, dass die wichtigsten Punkte für eine geregelte Weiterbildung festlegt – u. a. einen medizinischen Grundberuf (Arzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut) mit 1.350 Unterrichtseinheiten. Weiterhin gilt auch eine Fortbildungspflicht für Osteopath:innen – ähnlich wie in anderen medizinischen Berufen.
 
Was müssen überweisende bzw. empfehlende Ärzt:innen beachten?
Wie sieht es mit der Kostenübernahme für eine osteopathische Behandlung aus?
Da liegt die Crux – in einer gesetzlichen Regelung! Nachdem es diese bislang für Osteopathie nicht gibt, hat sich eine Vielzahl von Gerichtsurteilen (meist ausgehend durch unlauteren Wettbewerb) angesammelt; es sind Einzelfallurteile und es fehlt eine klare rechtliche Gesamtlinie. Aufgrund dieser Situation vertreten die Bundesländer verschiedene Haltungen zur Ausübung der Osteopathie in Deutschland.
Auch bei den Krankenkassen gehört die Osteopathie nicht zu einer sogenannten Regelleistung, sondern lediglich zur freiwilligen Satzungsleistung, was bedeutet, dass jede Krankenkasse die Höhe der Bezuschussung in eigener Verantwortlichkeit regeln kann. Dabei fordern manche Krankenkassen eine ärztliche Überweisung, damit der/die Patient:in eine Erstattung bzw. Bezuschussung der Osteopathie erhält. Viele setzen zudem eine Mitgliedschaft in einem Berufsverband voraus – wie z. B. dem BVO. Hier kommt es ganz auf die entsprechende Kasse an. Wichtig ist in jedem Fall, dass der/die Osteopath:in ihre Patient:innen im Vorfeld der Behandlung hierüber aufklärt.
Die gute Nachricht: Rund 100 gesetzliche Krankenkassen bezuschussen die Osteopathie. In welcher Höhe und wie die Voraussetzungen für die Erstattung sind, das sollten Patient:innen vor der osteopathischen Behandlung bei der Krankenkasse erfragen. Einen Überblick gibt unsere Krankenkassenliste. Vielen Dank für das Gespräch!
Quelle:

Georg Schöner Osteopath B.Sc. D. O. 1. Vorsitzender des Bundesverbands Osteopathie e.V. – BVO

www.bv-osteopathie.de

georg.schoener@bv-osteopathie.de

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