Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die aktuelle Lage für Kinder in der Pandemie dar?
Auch die Kinder leiden unter der Pandemie! Wir können auch nicht verlangen, dass es in einer Situation, in der am Tag über Tausend Menschen an oder mit COVID-19 sterben, es einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gut gehen soll. Wobei mir eines sehr wichtig ist: Wenn ich hier von Kindern spreche, meine ich Kinder im strengen Sinn, also im Alter bis zu zehn Jahren, vor der Pubertät.
Kinder erleben intensiv mit, was Erwachsene selbst erleben. Wir können den Kindern nicht ein anderes Erleben verschaffen als unser eigenes. Insofern ist es von meinen kinderärztlichen Beobachtungen ausgehend, das Entscheidende, wie wir Erwachsene innerlich mit der Situation umgehen. Dies hat sich auch schon in Kriegen gezeigt. Wenn wir die Lage der Kinder verbessern wollen, sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Wie gut kann ich akzeptieren, dass ich jetzt inmitten einer Pandemie lebe und ich auf vieles verzichten muss, woran ich mich normalerweise erfreue? Wie reagiere ich? Das Kind ist zu einer großen Akzeptanz bereit, wenn der Erwachsene sie vorlebt. Das soll nicht heißen, dass wir aufhören sollen, kritisch nachzudenken und zu diskutieren.
Ganz konkret gilt: Kinder unter zehn Jahren sind keine Treiber der Pandemie! Sie erkranken extrem selten, und sie sind keine starken Überträger. Dazu gibt es keine gegenteilige Evidenz. Wenn sich natürlich die Erwachsenen am Eingang einer Kita drängeln, ist das schon wieder etwas anderes. Aber ansonsten gilt: Kindern sollen und können wir als Erwachsene eigentlich möglichst viel Normalität ermöglichen – auch nach neuesten infektiologischen Erkenntnissen.
„Das Kind ist zu einer großen Akzeptanz bereit, wenn der Erwachsene sie vorlebt.“
Wie sehen Sie das Thema der Masken für Kinder?
Viele seriöse Publikationen zu Masken zeigen, wie sehr ihre Effektivität von einem korrekten Gebrauch abhängt. Wenn wir uns dieser Fakten bewusst sind, erscheint es fragwürdig, ob Kinder Masken richtig handhaben können. Deshalb halte ich diese und andere große Einschränkungen für Kinder bis zum 10. Lebensjahr nach wie vor für wissenschaftlich nicht gerechtfertigt. So gilt z.B. in Frankreich die Maskenpflicht ab 11 Jahren. Der möglichst normale Kontakt mit anderen Kindern zur Förderung einer gesunden Entwicklung ist ein nicht zur Disposition stehendes Gut. Die Isolation ist für niemanden folgenreicher als für Kinder!
Sie arbeiten ja auch mit dem Bund freier Waldorfschulen zusammen, u.a. bei der Verfassung einer gemeinsamen Stellungnahme zur Situation der Kinder. Wie gehen Waldorfeinrichtungen mit der Situation um?
Waldorfeinrichtungen sind kein Staat im Staate! Jede Waldorfeinrichtung fragt sich, wie alle anderen Einrichtungen auch, wie man die Vorschriften am besten umsetzt. Man bemerkt wie alle anderen auch, was es beispielsweise bedeutet, wenn es lange keine Elternabende mehr gab – außer den virtuellen. Im Rahmen der Notbetreuung erleben sie wie alle anderen, dass sehr viele Kinder zu betreuen sind – nicht nur einige wenige. Die Erzieher sind massiv gefordert und erleben dazu bei den Eltern eine gestiegene Reizbarkeit. Waldorfeinrichtungen zeigen allerdings besonders viel Fantasie, wenn es um die Frage geht, was man mit Kindern im Freien machen kann. Und unser Menschenbild und unsere innere Schulung hilft uns, Ruhe in viele Situationen hinein zu bringen und unsere Verantwortung als Erwachsene wahrzunehmen.
Sie haben betont: kein Staat im Staate. Nun hat sich Anfang Januar die Vereinigung anthroposophisch orientierter Ärzte in der Schweiz von Ärzten distanziert, die die behördlich angeordneten COVID-19-Präventionsmaßnahmen nicht umsetzen. Warum ist dies nötig geworden?
Ich würde dies nicht nur auf die anthroposophische Ärzteschaft beziehen. Ärzte sind von Haus aus starke Individualisten mit einem hohen Überzeugungsgrad bezüglich ihrer eigenen Auffassungen. Anders kann man diesen Beruf auch nicht leisten. Der Arzt steht für Wahrheit und Sicherheit. Man ist mit sehr vielen schwierigen Situationen konfrontiert, in denen man der einzige Halt für den Patienten ist. Gerade sehr engagierte Ärzte sind oftmals nicht viel in sozialen Zusammenhängen unterwegs und haben sehr viel mit Menschen in geschwächter Position zu tun. Dies kann dazu verleiten, Situationen, die zur Beurteilung den Überblick über einen großen sozialen Diskus brauchen, aus einer sehr persönlichen Ecke zu beurteilen.
Wir erleben gerade zum Thema COVID-19 unter Ärzten, aber auch unter führenden Forschern und Universitätslehrern erbitterte Dialoge darüber, wie die Situation richtig einzuschätzen ist. Ich sage aber auch: Wie sich einzelne anthroposophische Ärzte z.B. auf einer Querdenkerdemo in Südwestdeutschland geäußert haben, steht ganz klar nicht in Übereinstimmung mit der Auffassung der Leitung der medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, für die ich stehe – und auch nicht der Vorstände anthroposophischer Ärztegesellschaften. Also ja, es scheint hier die Ärzteschaft insgesamt nicht einig zu sein und wir haben Kollegen in den eigenen Reihen, die Positionen vertreten, die wir nicht teilen. Die Pandemiesituation ist eben nicht leicht zu beurteilen. Wir selbst in der medizinischen Sektion haben uns seit März unmissverständlich dazu geäußert (1).
Es sollen auch Impfstoffstudien mit Schwangeren und chronisch kranken Kindern geplant sein. Wie stehen Sie zu dem Thema?
Es gibt Gruppen von Menschen, die besonders gefährdet sind. Uns machen da besonders die Menschen mit Down-Syndrom Sorgen. Bei Erwachsenen ist es so, dass ein 40-Jähriger das gleiche COVID-Risiko wie ein 80-Jähriger ohne Down-Syndrom hat. Die Sterblichkeit ist zehnmal höher als beim Rest der Bevölkerung! Bei Kindern mit Down-Syndrom wissen wir noch nicht genau, wie hoch deren Risiko ist. Bisher haben wir den Eindruck, dass das Risiko in der Kindheit nicht wesentlich erhöht ist. Aber dazu haben wir keine gesicherten Fakten. Deswegen ist gegen eine wissenschaftliche Untersuchung der Wirksamkeit der Impfung an Kindern nichts einzuwenden.
Wir stehen immer noch vor der Frage, ob wir mit den neuen Impfstoffen die Virustransmission unterbrechen und eine Gruppen- oder Herdenimmunität erreichen können. Solange das unklar ist, fehlt für eine allgemeine Impfempfehlung im Kindesalter jede Grundlage. Es kann aber sein, dass wir z.B. für Kinder mit Down-Syndrom zu deren eigenem Schutz zu einer Impfempfehlung kommen werden.
„Bei Kindern mit Down-Syndrom wissen wir noch nicht genau, wie hoch deren Risiko ist.“
Was ist denn der spezifisch anthroposophische Input zum Schutz der Kindergesundheit? Man liest beispielsweise von anthroposophischer Seite, dass es Faktoren gibt, die die Lunge schwächen, wie mangelnde Beziehung zur Erde und zur Sonne. Was ist darunter zu verstehen?
Alles was wir in den letzten 30 Jahren diesbezüglich als „anthroposophischen Lebensstil“ vertreten haben, hat sich u.a. in Allergiestudien als evidenzbasiert erwiesen – und nicht nur dort. Kinder, die auf natürlichem Untergrund spielen, wie auf Waldboden, haben ein anderes Mikrobiom im Darm, ein anderes Immunsystem und eine andere Kompetenz überschießende Entzündungen herunter zu regulieren, die bekanntlich das Problem bei COVID-19 sind.
Zum Spiel unter freiem Himmel: Vitamin-D-Mangel schwächt das Immunsystem. Kinder müssen Sonnenlicht aufnehmen können, weil ihr Immunsystem sonst nicht handlungsfähig ist. Dabei gilt, dass Sonnenbrände verhindert werden müssen, am besten durch die Kleidung und eine natürliche Bräunung. Sonnencreme, die nicht benötigt wird, verhindert Vitamin-D-Bildung und schwächt so das Immunsystem. Ein spielendes Kind in München braucht nicht dasselbe wie ein Kind, das am Mittelmeer im Sand spielt. Dazu kommen in der anthroposophischen Medizin u.a. die Prinzipien gesunder Ernährung, die Prinzipien des Warmhaltens, das Einbinden in aktive Spiele anstatt Kinder vor Bildschirmen sitzen zu lassen. All das hat sich als immunstärkend erwiesen. Es ist also nicht nur so, dass wir nachweislich weniger Allergiker haben, sondern das Immunsystem wird auch in Bezug auf COVID 19 reaktionsfähiger.
Es gibt ja Studien, die zeigen, dass Kinder in Familien weit weniger ansteckend sind, als zeitweise befürchtet.
Ja, es gibt eine schottische Studie mit 300.000 Menschen (2). Mit jedem Kind in der Familie sinkt die Zahl der COVID-Patienten um zehn Prozent. Eine noch größere Studie in Großbritannien bestätigte dies. Hierfür werden verschiedene Gründe diskutiert: Ein Grund ist wohl, dass Erwachsene mit Kindern einfach anders leben als Erwachsene ohne Kinder, also z.B. weniger riskante Situationen außerhalb des Hauses aufsuchen. Virologisch wird weiterhin vermutet, dass Kinder, die sich angesteckt haben, nur relativ kleine Virendosen weitergeben – und die Schwere einer COVID-19 Erkrankung hängt ja auch von der Virusdosis ab, mit der man angesteckt wird. Viele Erwachsene, die von Kindern angesteckt werden – anstatt zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln voll angehustet zu werden – könnten eine asymptomatische Erkrankung durchmachen. Auf diese Weise könnten Kinder sogar unser Immunsystem trainieren. Die wissenschaftliche Evidenz wird hier nach wie vor nicht ernst genug genommen: Die Kinder sind keine Pandemie-Treiber sondern -Bremser!
Georg Soldner
Stellvertretende Leitung der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum; Facharzt für Kinderheilkunde; Mitglied des geschäftsführenden Vorstands Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte GAÄD 1999–2011; stellvertretender Vorstand der Internationalen Vereinigung Anthroposophischer Ärzte IVAA 2001–2008; Leiter der Akademie Anthroposophische Medizin GAÄD seit September 2013.
Quellen & weitere Informationen
1. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft. Medizinische Sektion am Goetheanum.
https://medsektion-goetheanum.org/anthroposophische-medizin/
Ausführliche Informationen zu COVID-19 aus Sicht der Anthroposophischen Medizin: regelmäßig aktualisiertes Literaturverzeichnis zu COVID-19; u.a. Beiträge von Dr. med. Matthias Girke und Georg Soldner.
2. Folgende Studie ist gemeint:
Wood R. et al.: Sharing a household with children and risk of COVID-19: a study of over 300,000 adults living in healthcare worker households in Scotland. medRxiv 2020.09.21.20196428; doi: https://doi.org/10.1101/2020.09.21.20196428