Naturmed Praxis - im Gespräch

Naturmedizin 6/2022

„Der Medizin“

Wenn man Medizin einen Artikel zuordnen wollte, müsste es „der Medizin“ heißen, denn Medizin ist männlich, so der Autor des Buches „Gesundheitsrisiko weiblich“, Dr. med. Werner Bartens. Dabei ist der weibliche Organismus anders als der männliche, und bei fast allen Krankheiten gibt es Unterschiede zwischen Mann und Frau. Die Ablehnung einer gendergerechten Medizin muss ein Ende haben, fordert Bartens. Der Arzt beantwortete exklusiv die Fragen von NMP-Redakteur Frank Aschoff.
Was hat Sie – als Mann – zum Schreiben dieses Buches motiviert?
In erster Linie hat es mich als Arzt und Medizinjournalist motiviert, über dieses vernachlässigte Thema zu schreiben. Weil Frauen in der Medizin oft schlechter behandelt und falsch verstanden werden, besteht dringend Aufklärungs- und Veränderungsbedarf.
 
Sie zeigen in Ihrem Buch anhand vieler Beispiele auf, dass Frauen aufgrund ihrer anderen Biologie oft andere Untersuchungs- und Behandlungsmethoden brauchen als Männer. Bei welchen Gesundheitsstörungen ist dies aus Sicht eines Hausarztes besonders wichtig?
Was mich bei meinen Recherchen besonders erstaunt hat, ist, dass es eigentlich bei allen Krankheiten Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Frauen haben andere Symptome beim Herzinfarkt und werden später und schlechter behandelt. Frauen werden chronische Lungenleiden nicht so zugetraut wie Männern, weshalb diese Erkrankungen bei ihnen oft übersehen werden. Frauen haben häufiger Nierenerkrankungen, kommen aber seltener an die Dialyse. Von Autoimmunerkrankungen sind zu mehr als 70 % Frauen betroffen, trotzdem werden diese Leiden bei ihnen schlechter behandelt und die Beschwerden oft als rein „psychisch“ abgetan. Die meisten Medikamente wurden und werden nur an Männern getestet. Stichproben zeigen, dass manche von ihnen bei Frauen weniger gut wirken. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen – deshalb gehe ich ja in meinem Buch viele Erkrankungen durch und weise auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede hin.
 
Die Unterschiede in der Wahrnehmung und Behandlung von Herzleiden bei Männern und Frauen haben mich besonders irritiert. Was ist die Folgerung für die ärztliche Praxis?
 Erstens müssen Ärzte die Unterschiede kennen und wissen, dass Rückenschmerzen, Übelkeit, Luftnot oder Oberbauchschmerzen bei Frauen auf einen Herzinfarkt hinweisen können – und sie oftmals nicht den Linksseitenschmerz und das Gefühl der Brustenge haben wie Männer. Dann sollten sie nicht zögern, schleunigst eine Notfallbehandlung einzuleiten, denn insgesamt erleiden sogar mehr Frauen als Männer einen Infarkt – werden aber deutlich später und zudem weniger invasiv behandelt. Der Skandal besteht darin, dass diese tödliche Ungerechtigkeit seit den 1990er-Jahren bekannt ist, aktuelle Studien jedoch zeigen, dass sich wenig geändert hat.
 
Sie zeigen eindrücklich auf, wie wichtig ein geschärftes Bewusstsein und eine Geschlechtersensibilität in der Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen ist. In welche Richtung muss hier in der Praxis einem Fehlverhalten gegengesteuert werden?
Frauen werden von Ärzten schlechter behandelt als von Ärztinnen – dazu gibt es Studien, die erschreckende Unterschiede aufzeigen. So fallen beispielsweise OP-Ergebnisse für Frauen besser aus, wenn sie von Frauen operiert werden als von Männern – für Männer macht es hingegen keinen Unterschied. Ärzte unterstellen Patientinnen zudem eher als Patienten, dass sie ihre Beschwerden übertreiben oder es ihnen nur um eine Krankschreibung geht. Allerdings gehen auch viele Patientinnen anders in das Gespräch mit einem Arzt als mit einer Ärztin – nach dem Motto: Der versteht mich eh nicht richtig. Dann werden Symptome verschwiegen oder verharmlost. Im Arzt-Patienten-Verhältnis muss sich grundsätzlich etwas ändern und das Bewusstsein entstehen, welche Gefahren in der Medizin durch das Geschlechterverhältnis lauern.
 
Sie zeigen viele Unterschiede zwischen dem Verhalten von Ärztinnen und Ärzten auf. Welche machen sich in der Praxis besonders bemerkbar und wo kann hier angesetzt werden?
Rollenerwartungen und Vorurteile prägen die Arzt-Patientinnen- Kommunikation. Ärzte unterstellen Patientinnen oft, dass sie mehr Zeit brauchen, sich mit Erklärungen nicht zufriedengeben und ärztliche Anweisungen weniger befolgen. Zudem gelten sie als emotionaler und „komplizierter“ und beharren auf ihren eigenen Deutungen. Daraus entsteht oftmals eine unbewusste Abwehrhaltung, die schädlich für den Therapieerfolg und die Heilung ist. Zudem verkennen Ärzte bei Frauen eher körperliche Leiden, weil sie sie für rein „psychisch“ halten und organischen Symptomen weniger nachgehen. Es ist nachgewiesen, dass die Arzt-Patient-Beziehung zwischen Frauen und männlichen Ärzten schlechter ist, dass die Diagnosen weniger gut gesichert sind und dass bei einer Frau in der Praxis die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass eine schwerwiegende Erkrankung auch als solche erkannt wird. Und wenn doch, dann erst später.
 
Umfangmäßig kleiner sind die Benachteiligungen von Männern durch mangelnde Geschlechtersensibilität. Wo ist hier aktuell der größte Nachholbedarf?
 Der ist tatsächlich viel geringer. Beispiele wären, dass die Kriterien für eine Depression lange an den Symptomen von Frauen ausgerichtet waren, obwohl Männer oft anders daran erkranken. Auch die Diagnosekriterien für Osteoporose richten sich hauptsächlich nach dem Standard, der von Frauen vorgegeben ist.
 
Welche konkreten Schritte wünschen Sie sich in den nächsten Jahren für mehr Geschlechtersensibiliät in der Medizin?
Defizite müssen behoben werden – in der praktischen Medizin, aber auch in der Arzneimittelforschung, in klinischen Studien. Zyklus- und Hormoneffekte sind zu wenig untersucht, die Dosierung von Medikamenten ist nicht an den weiblichen Stoffwechsel angepasst. Bund und Länder müssen für eine geschlechtersensible Medizin und Forschungsförderung sorgen. Alle Gesundheit und Krankheit betreffenden Daten müssten nach Geschlecht erhoben und ausgewertet werden. Die Erkenntnisse einer gendersensiblen Medizin müssten schnellstmöglich in die Ausbildung einfließen. Das vorherrschende Rollenmodell für die Lehre ist allerdings immer noch der 75 Kilo schwere und meist jüngere Mann – Geschlechtsunterschiede werden kaum diskutiert. Aus diesem Grund werden Risiken durch Bluthochdruck, Alzheimer, chronische Nierenerkrankungen und Herzinfarkt bei Frauen mittleren Alters immer noch massiv unterschätzt.
Ein zu wenig beachteter Bereich der Medizin ist auch die unterschiedliche Kommunikation von Männern und Frauen. Werden Frauen von männlichen Ärzten behandelt, ist es besonders wahrscheinlich, dass es zu Konflikten, Missverständnissen und Fehlbehandlungen kommt, die der Patientin schaden.
Werden geschlechtstypische Eigenheiten nicht beachtet, wie es in Krankenhaus und Praxis leider oft immer noch der Fall ist, kann das massiven Schaden für Patientinnen wie Patienten mit sich bringen.
Gender ist ein Modebegriff geworden, doch noch immer stehen Vorurteile und veraltete Denkmuster dagegen, das biologische wie das soziale Geschlecht selbstverständlich in die Medizin einzubeziehen. Diese abwehrende Haltung bringt nicht nur Nachteile für Frauen mit sich, sondern ist potenziell bedrohlich für beide Geschlechter wie für non-binäre Personen.

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