Naturmed Depesche im Gespräch

Naturmedizin 3/2022

Integrativer Ansatz bei Long COVID

Seit 2009 lebt und arbeitet Dr. Peter Niemann in den USA, hält sich aber auch immer wieder in Deutschland an der Nordsee auf. Aktuell ist er in Krankenhäusern im Mittleren Westen tätig, hier vor allem in Minnesota, Süd- und Norddakota. Als Facharzt für Innere Medizin, Integrative Medizin und Geriatrie hat er ein Ratgeberbuch für Long COVID-Betroffene geschrieben, in dem er neben schulmedizinischen Behandlungsoptionen auch viele naturheilkundliche Therapiemöglichkeiten vorstellt. NMD-Redakteur Frank Aschoff beantwortete er einige Fragen zu seinen Erfahrungen und Ansätzen.
Haben Sie Erfahrungen mit COVID- und Long COVID-Patient: innen?
Ja, die habe ich, aber vor allem im stationären Bereich. Wir erleben bzw. ich erlebe immer wieder, dass Menschen mit einer Vielzahl an Symptomen aufgenommen werden, wie Luftnot, Schmerzen diverser Art, Konzentrationsprobleme und vieles mehr – die Diagnostik erlaubt aber keine klare Diagnose. Manche von ihnen haben sogar weiterhin einen positiven PCRTest. Ich diagnostiziere sie dann mit Long COVID, gegebenenfalls auch weitere Begleitdiagnosen wie ein entgleister Diabetes oder eine Lungenvernarbung, also Lungenfibrose. Ich therapiere im stationären Bereich vor allem mit schulmedizinischen Maßnahmen, aber auch etwas Akupressur und einer Liste an Nahrungsergänzungsmitteln und anderen Maßnahmen, die helfen.
 
Ist die Differenzialdiagnose nicht sehr schwierig?
Ja, ich empfinde sie als extrem schwierig, wobei es hier mehrere Komponenten gibt. Erstens, die bisher eher vage Definition der Krankheit Long COVID, die vor allem auf dem Vorhandensein bestimmter Beschwerden nach 12 Wochen fußt. Zweitens, es gibt weder einen Laborbefund, noch ein bildgebendes Verfahren, welches die Diagnose untermauern könnte. Drittens, und diesen Punkt empfinde ich als wichtigsten, es herrscht noch immer unter vielen Betroffenen, aber gerade unter auch Ärzten, ein Unverständnis für diese Krankheit – sie wird von manchen meiner Kollegen regelrecht angezweifelt, so dass der aufnehmende Arzt oder der Nachtkollege meine Therapie teilweise umstellen, weil sie davon ausgehen, dass ich inkorrekt behandele.
 
Es erscheinen ja auch Untersuchungen, dass individuelle Überzeugungen und Einstellungen beim Krankheitsverlauf auch ein Rolle spielen …
Das ist absolut richtig. Ich bin auf Long COVID schon sehr früh aufmerksam geworden, weil ich mit die ersten COVID19-Fälle im Mittleren Westen der USA im Frühling 2020 betreut habe und seitdem mehr als 1.000 COVID- 19-Betroffene als Arzt behandelt habe. Das mag jetzt etwas seltsam klingen, aber es entspricht meiner Beobachtung: Auch wenn ich hierfür keine Studien zitieren kann, aber eine gewisse psychogene Komponente fiel mir bei COVID-19 auf: Wer besonders ausgeprägt Angst vor COVID-19 hatte, schien besonders stark zu erkranken. Aber das überrascht natürlich den Kundigen nicht, denn Psyche spielt bei vielen Erkrankungen eine Rolle – Depressive erkranken bekanntermaßen häufiger an einer Reihe an Erkrankungen wie Herzinfarkt aber auch Infektionen. Daher überrascht es mich auch nicht, wenn auch bei Long COVID die Psyche eine Rolle im positiven und negativen Sinne spielt, was natürlich auch wiederum erklärt, wieso Psychotherapie eine der vielen Säulen bei der Behandlung von Long COVID ist.
 
Warum müssen schulmedizinische Ansätze zur Behandlung von Long COVID durch naturheilkundliche Ansätze ergänzt werden?
Long COVID ist eine der neuesten Krankheiten, die es gibt. Bisher gibt es keine speziellen Therapien für Long COVID, weshalb man vor allem eher auf breiter Ebene wirkende Medikamente wie Steroide oder eben symptommildernde wie Schmerzmittel oder Inhalationspräparate zurückgreift. Die Schulmedizin hat gute und wirksame Mittel in ihrem Arsenal, aber meiner Meinung nach sind diese derzeit nicht ausreichend. In einer solchen Situation wäre es für den Betroffenen tragisch, wenn man nicht das volle Arsenal der Medizin nutzen würde, und dieses umfasst eben auch naturheilkundliche Aspekte, wie Nahrungsergänzungsmittel, Akupunktur oder Ernährungsempfehlungen. In dieser Frühphase der Long COVID-Pandemie gilt es möglichst schnell Hilfe zu finden, und hier kommen die vielen Therapien meines Buches ins Spiel, denn es ist so geschrieben, dass sich der Leser und die Leserin auch selber helfen kann, auch wenn natürlich Details stets mit dem Hausarzt besprochen gehören.
 
Sie führen in Ihrem Buch verschiedenste naturheilkundliche Ansätze auf. Welche abgestufte Vorgehensweise würden Sie Kolleg:innen empfehlen, die einen Long COVID-Patienten oder -Patientin in der Praxis haben?
Zunächst würde ich Diagnostik empfehlen, also sicherzugehen, dass es sich wirklich um Long COVID handelt. Einfache Blutuntersuchungen, wie auch ggf. bildgebende Verfahren oder ein kurzer Ultraschall können hier Sicherheit bringen. Hiernach würde ich zunächst zu schulmedizinischen Präparaten greifen, eben wie Steroidpräparate, Inhalationsmedikamente, nichtsteroidale Antiphlogistika oder gegebenfalls auch bestimmte Hautsalben bei Muskelschmerzen. Ich nenne im Buch natürlich auch noch einige andere Medikamente. Aber schon beim ersten Besuch würde ich aufschreiben, welche Beschwerde im Vordergrund steht – z.B. Konzentrationsprobleme, Müdigkeit oder Luftnot und würde versuchen das zu quantifizieren, mittels einer von vielen Punktesystemen bei diesen Symptomen. Hiernach würde ich, abgestimmt auf die Beschwerde, dann eine Liste von zwei oder drei Nahrungsergänzungsmitteln aufschreiben, wie z. B. Coenzym Q10 bei Gehirnnebel oder Quercetin bei entzündungsbedingten Muskelschmerzen, wie auch dann auf die Vorteile eines Saunaganges, Shinrin Yoku (Waldbaden) oder von bestimmte Ernährungsumstellungen verweisen. Je nach Situation, würde ich gleich zur Psychotherapie oder Physiotherapie überweisen oder das erst bei nachfolgenden Praxisbesuchen tun. Am Ende sollte aber jeder Arzt wissen, dass es eine überraschend große Palette an Behandlungsmöglichkeiten gibt, die ich mit diesem Buch aufzeigen will, im Wissen, dass wir im Laufe der nächsten Jahre noch viele weitere Therapien finden werden.
 
Dr. Peter Niemann
Facharzt für Innere Medizin,
Integrative Medizin und
Geriatrie
ICD-Codes: U07.1

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