Jedes Netzwerk hat seinen Platz im Gehirn. Bislang war jedoch unklar, warum ein Netzwerk sich dort befindet, wo es sich befindet. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) und des Forschungszentrums Jülich (FZJ) haben nun zwei Hauptachsen definiert, von „hinten“ nach „vorn“ und von „oben“ nach „unten“. Entlang derer sind die Hirnregionen genetisch organisiert und reichen von grundlegenden Fähigkeiten wie Handlung und Wahrnehmung bis hin zu Regionen, die abstraktes Denken unterstützen. Weiß man mehr über diese Achsen und ihre Herkunft, versteht man mehr über die Funktion und evolutionäre Vergangenheit der einzelnen Netzwerke.
Jedes Netzwerk des Gehirns befindet sich an einem speziellen Ort, der über seine Funktion und seine Nachbarn bestimmt, aber auch über die Komplexität seiner Funktion. Die Regeln nach denen sich die einzelnen Hirnregionen anordnen und in Beziehung zueinander treten, sind bisher jedoch kaum verstanden worden. Die Neurowissenschaftler haben nun 2 Achsen entschlüsselt, entlang derer das menschliche Gehirn organisiert ist. Dabei zeigte sich, dass es vor allem genetische Faktoren sind, die die Lage entlang der Achsen bestimmen. Eine Achse erstreckt sich demnach vom hinteren zum vorderen Stirnbereich der Großhirnrinde, dem Cortex. Darin spiegelt sich eine Hierarchie der Funktionen wider – von grundlegenden Fähigkeiten wie Sehen und Bewegung bis hin zu abstrakten, hochkomplexen Fähigkeiten wie Kognition, Gedächtnis und sozialen Fähigkeiten. Senkrecht dazu führt eine 2. Achse von der Hirnoberfläche (dorsal) in die Tiefe des Cortex (ventral). An der Oberfläche finden sich demnach eher Netzwerke, die Raum, Zeit und Bewegung verarbeiten, in der Tiefe eher solche, die sich auf Bedeutung und Motivation fokussieren.
„Interessanterweise stimmt diese vertikale Anordnung mit der seit langem vermuteten Hypothese des doppelten Ursprungs überein“, sagt Sofie Valk, Erstautorin der Studie. Nach dieser Hypothese entwickelte sich die Großhirnrinde aus 2 verschiedenen Ursprüngen - der Amygdala und dem olfaktorischen Cortex einerseits und dem Hippocampus andererseits. Daraus ergaben sich 2 verschiedene Entwicklungslinien, die Wellen von weniger zu stärker differenzierteren Bereichen widerspiegeln. Frühere Studien hatten solche Unterscheidungen zwar schon bei nichtmenschlichen Primaten und anderen Säugetieren gefunden. Die Wissenschaftler um Valk waren jedoch die ersten, die sie für den menschlichen Cortex nachwiesen. Neben der Längsachse scheint diese senkrechte Achse damit ein 2. wichtiges Organisationsprinzip zu sein. Bestimmt wird diese 2-Achsen-Organisation wiederum weitgehend durch die genetische Beziehung der Hirnregionen zueinander, also durch gemeinsame genetische Effekte während der Entstehung. Das Prinzip scheint dabei, so ein weiteres Ergebnis der Studie, evolutionär sehr stabil zu sein, denn der Vergleich mit den Gehirnen von Makaken zeigt ähnliche Achsen. „Für die Gestaltung unseres Gehirns sind also die Evolution und die Gene die entscheidenden Faktoren“, erklärt Valk. „Gleichzeitig dürfen wir aber nicht vergessen, dass auch die Umwelt eine wichtige Rolle für dessen Ausgestaltung spielt.“ In der aktuellen Studie hätten sie sich zwar speziell auf die genetischen Effekte konzentriert. Andere Arbeiten ihres Teams hätten jedoch gezeigt, dass etwa auch Verhaltenstraining die Gehirnstruktur verändern kann.
Quelle: Valk S et al.: Shaping brain structure: Genetic and phylogenetic axes of macro-scale organization of cortical thickness.
Science Advances. 2020. doi: 10.1126/sciadv.abb3417 (idw – Pressemitteilung, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Verena Müller)