Naturmed Praxis im Gespräch

Naturmedizin 5/2022

„ Du bist nicht totkrank - also bist du ok“

Dr. med. Helena Orfanos-Boeckel arbeitet in eigener Praxis für ganzheitliche Innere Medizin, Stoffwechsel- und Präventivmedizin in Berlin-Charlottenburg. Sie verbindet klassische internistische Medizin mit neuen Erkenntnissen, u. a. aus der hormonellen, orthomolekularen und mitochondrialen Medizin. Warum ein „großes Blutbild“ nicht reicht, um den Gesundheitsstatus umfassend einzuschätzen und welchen Ansatz sie in ihrer täglichen Praxis verfolgt, erklärte sie Chefredakteurin Elisa Gebhardt.
Ihre Facharztweiterbildung haben Sie für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Nephrologie abgeschlossen, parallel aber zahlreiche energetische Heilmethoden, wie Kinesiologie oder Reiki, erlernt. Woher kommt Ihre Offenheit für alternative Methoden?
Ich habe in der Klinik gelernt, wie Krankheit funktioniert, und während ich die Pathologie, die Therapie und vor allem die Labordiagnostik schwerkranker Menschen beobachtet habe, stellte ich mir immer die Frage, wie es so weit kommen konnte. Mich interessiert also, wie Gesundheit funktioniert. Ich komme aus einer Ärztefamilie – meine Eltern sind beide Ärzte, mein Vater, mit einer sehr wissenschaftlichen Ausrichtung, meine Mutter hat sich eher mit Naturheilkunde und feinstofflichen Themen beschäftigt. Ich habe versucht, in der Mitte die Verbindung zu finden, denn beide konnten mit ihrem jeweiligen Ansatz den Patient:innen sehr gut helfen. Meine These ist, dass sich das Energetische und das Biochemische in der Zelle treffen, und dass dafür Nährstoffe und Hormone in der Zellfunktion und -regulation eine wichtige Rolle spielen. Heute ist es so, dass ich vor allem im Stofflichen arbeite. Dabei ist die Labordiagnostik ein ganz wichtiger Maßstab für mich, ob meine Interventionen erfolgreich sind. Wissenschaftliche Sicherheit ist mir wichtig – ich will sicher sein, dass das was ich mache, einen positiven Effekt hat und aber auch, dass es nicht schadet.
 
Sie prägen in Ihrem Buch den Begriff: Individuelle Biochemische Stoffwechsel-Empfindlichkeit (IBSE). Was kann man sich darunter vorstellen?
Die IBSE ist Ausdruck eines Systems, dass in Unordnung ist, geprägt einerseits von einem Mangel an Faktoren, die gesund erhalten, und andererseits einem Zuviel von Faktoren, die krank machen. Den Begriff habe ich aus dem Bedürfnis heraus geprägt, uns Ärzt:innen einen Ansatz zu geben, wo die Systeme der Nährstoffe und körpereigenen Hormonen zusammenspielen. Nehmen Sie allein das Wort Stoffwechsel – das ist viel zu diffus, alles hat mit dem Stoffwechsel zu tun! In meiner täglichen Praxis prägten meine Patient: innen den Begriff „Empfindlichkeit“. Ich hörte ständig Sätze wie: Der Schlaf ist so empfindlich, die Blase ist empfindlich, ich bin Stressempfindlich. Empfindlichkeit fand ich also einen guten Begriff, um dem Ausdruck zu verleihen, was die Patient:innen fühlen. Diese individuelle Empfindlichkeit – da setze ich an, und zwar in der Stoffwechselfunktion. Ich behandele mit den Stoffen, die der Körper biochemisch kennt und selbst benutzen würde, wenn er sie denn hätte. Ziel ist es, diese individuelle Stoffwechsel-Empfindlichkeit so zu modulieren, dass sie stabiler auf die verschiedenen Einflüsse reagieren kann.
 
Bei der Labordiagnostik betonen Sie: Es geht nicht um Ausschluss von Krankheit 1, 2 oder 3. Wie gehen Sie also vor, um die IBSE zu bestimmen, was machen Sie anders?
Die Idee hinter der ganzheitlichen Labordiagnostik im Sinne der IBSE ist, dass man ein individuelles biochemisches Gesamtbild des Menschen erhält. Was ist im Stoffwechsel, in der zellulären Funktion und Regulation wirklich los? Dafür erhebe ich sehr viel mehr Werte, als ein großes Blutbild, ein Kreatinin, Kalium, Natrium, zwei Leberwerte, ein Gesamt-Cholesterin und ein TSH. Im Gegensatz zur normalen Ausschlussdiagnostik, interessiere ich mich schon für minimale Verschiebungen vieler Krankheitsparameter. Durch die genaue Betrachtung vieler verschiedener Werte, auch funktioneller Werte, Nährstoffe und Hormone, verstehe ich viel deutlicher, was im Körper passiert, um dann über Ernährung, Verhalten, Schulmedizin, Pharmakologie und auch Nährstoff- und Hormontherapie anzusetzen, um das Ganze im weitesten Sinne hin zur Gesundheit zu bewegen und zu ordnen. Ein Beispiel aus der Nephrologie: Wir stellen kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Blutdruck, HbA1c und LDL-Cholesterin, im Sinne des Gefäßschutzes so ein, dass ein möglichst langes Überleben der Nieren ermöglicht wird. Dieses Prinzip kann man auf sehr viele andere Systeme übertragen. Die sind auf den ersten Blick nicht direkt entscheidend über Leben und Tod, wie unser Beispiel mit dem Nierenversagen. Aber beispielsweise ein chronischer B12-Bedarf, der nicht gedeckt ist, kann das ganze System aus dem Gleichgewicht werfen und langfristig schwerwiegende Folgen haben.
 
Warum haben Sie 2018 Ihre Kassenzulassung abgegeben und führen Ihre Praxis als Privatpraxis?
Vor allem habe ich mich geistig-mental eingeschränkt und unfrei gefühlt. Wenn man individuell für die Patient:innen das Beste machen möchte, ist es so, dass man dauernd irgendwelche Leitlininen bricht. Ich hatte immer das Gefühl, ich muss mich rechtfertigen für die Entscheidungen, wie ich meine Patient:innen behandele. Durch den Fokus auf die Wirtschaftlichkeit ist diesem System völlig abhandengekommen, um was es eigentlich wirklich geht: Um das Wohlbefinden der Patient:innen! Es geht nur noch darum, was bezahlt wird. Und viele Kolleg:innen glauben dann, nur das, was bezahlt wird, sei die richtige Medizin. Das ist aber nicht so. In diesem Kontext habe ich mich nicht mehr wohlgefühlt. In einer Privatpraxis ist klar, alles sind Selbstzahlerleistungen. Die Patient:innen wählen diesen Schritt selbst. Und das Beruhigende ist: Sehr viele Patient:innen wollen diese Art der Medizin, verstehen den Sinn und den Nutzen dieses ganzheitlichen Ansatzes und sind bereit, selbst dafür Geld in die Hand zu nehmen.
 
Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, dass ganzheitliche Ansätze der breiten Masse von Patient:innen zugänglich gemacht werden können?
Man müsste mehr forschen! Es sollten die Studiengänge Nährstoff- und Hormonwissenschaften eingerichtet werden, analog zu Sport- und Ernährungswissenschaften oder auch Sport- und Ernährungsmedizin. Die medizinische Anwendung von Nährstoffen und körpereigenen Hormonen sollte universitär gelehrt werden und in der Facharztausbildung Thema sein. Dann könnte dieses Wissen in die Leitlinien einfließen und auch ins Kassensystem aufgenommen werden.
 
Sie kombinieren in der Therapie häufig orthomolekulare Substanzen und bioidentische Hormone mit klassisch schulmedizinischen Medikamenten?
In der Inneren Medizin mit dieser Vielzahl von pharmakologischen Substanzen, die da gegeben werden, gibt es meiner Meinung nach sehr viel Verbesserungspotenzial. Man könnte hier sehr viel feiner arbeiten. Und die Begleitung mit Nährstoffen und Hormonen könnte helfen, Nebenwirkungen deutlich zu reduzieren. Einige Beispiele: Bei den Statinen kann Coenzym Q10 helfen, bei ASS das Vitamin C, bei PPIs das Kalzium, bei Metformin B12, bei der Pille die B-Vitamine und Zink – wenn man nur genau hinschauen würde, was denn die körperfremden pharmakologischen Substanzen mit den Organismen der Menschen machen! Ja, sie haben einen Nutzen, aber sie haben auch einen Preis. Und diesen Preis könnte man erheblich reduzieren, würde man eine wirklich personalisierte Medizin anwenden.
 
Die orthomolekulare Therapie steht immer wieder in der öffentlichen Kritik, immer wieder kommen auch negative Studienergebnisse.
In diesen Studien wird nicht individuell gearbeitet, d. h. es wird nicht gemessen, wieviel braucht das Individuum von einem bestimmten Nährstoff. Es wird nur pauschal etwas gegeben, und dann wird gemessen, ob diese Personen seltener an Krankheit XY sterben. Würde man das mit kardiovaskulären Medikamenten so machen, also jedem einen ACE-Hemmer in einer Pauschal-Dosierung verabreichen, ohne den Ausgangsblutdruck zu messen, dann ist doch klar, dass da nichts rauskommt. Also, solche Studien spiegeln nicht die Realität der orthomolekularen Therapie wider.
 
Welche sind die Top 5 der unterschätzten Nährstoffe in der täglichen Praxis?
Als erstes würde ich sagen: Vitamin D – dazu gehört aber auch die Diagnostik von Calcium, Magnesium, Bor und Vitamin K2. Dann 2 Mineralien die ganz wichtig fürs Immunsystem sind: Selen und Zink. Deutschland hat selenarme Böden, der Bedarf ist über die Nahrung kaum zu decken. Ganz wichtig sind Omega-3-Fette, EPA und DHA. Und dann die Familie der B-Vitamine. Ein ganz wichtiger Hinweis: Die Genetik hat einen großen Einfluss auf die Verarbeitung von Nährstoffen. Die individuelle Variabilität der Tagesdosen ist enorm.
 
Dr. med. Helena Orfanos-Boeckel
Internistin, Nephrologin,
Stoffwechselmedizin ,
Präventivmedizin,Autorin
www.praxis-dr-orfanos.de

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