Im Gespräch

Naturmedizin 1/2023

„Die nicht abbaubaren Bestandteile unserer Medikamente sind ein großes Problem“

Forschungsschwerpunkte von Prof. Dr. Michael Müller sind die Biosynthese von Naturstoffen, die enzymatische Synthese von Wirkstoffen und Nachhaltige Pharmazie. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Lehre ein, was aktuell auch mit zwei Lehrpreisen auf Universitäts- und Landesebene honoriert wurde. Mit der Naturmed Praxis sprach er über das immer noch unterschätzte Problem der nicht abbaubaren Arzneimittelrückstände.

Herr Prof. Müller, ein Thema, welches Ihnen als pharmazeutischer und medizinischer Chemiker besonders wichtig ist, ist die Frage: Was passiert mit den vielen verschiedenen chemischen Arzneistoffen, nachdem sie einmal in den Umweltkreislauf gelangt sind? Von welchen Dimensionen reden wir da in Deutschland?

Bezogen auf einzelne Substanzen: von wenigen Kilogramm bis hin zu mehr als 1.000 Tonnen eines Wirkstoffs (Metformin). Die Umweltbelastung ist aber nicht mit der jeweiligen Menge gleichzusetzen. So können hormonell wirksame Substanzen auch in sehr niedriger Konzentration sich in der Umwelt negativ auswirken. Grundsätzlich gilt, dass die Umweltbelastung durch Arzneimittel nur für einzelne Substanzen oder Gruppen näher untersucht wurde. Das gesamte Ausmaß der Umweltbelastung ist somit weder bekannt noch abschätzbar.

Prof. Dr. Michael Müller
Leiter des Lehrstuhls für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg

Welche Rückstände sind besonders kritisch zu sehen?

Typischerweise kommen einem zunächst Antibiotika und das Resistenzproblem in den Sinn. Dies ist auch ein immer größer werdendes Problem, dessen Bedeutung man nicht unterschätzen sollte. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist das schmerz- und entzündungshemmende Diclofenac, welches sich fatal auf Vögel auswirkt. In Indien führte dies zu einem massiven Geiersterben, in dessen Folge Tollwut vermehrt auftrat.

Langfristig wirken sich persistierende Substanzen durch Anreicherung in der Umwelt und damit eine räumliche und zeitliche Fernwirkung in einem oft unbekannten Maße aus.

Es ist vergleichbar mit einer Wette auf die Zeit: Wann bricht das erste Ökosystem unter der Last der nicht-abbaubaren Stoffe zusammen?

Aus dem FCKW-Beispiel haben wir leider nicht wirklich gelernt: die Ozonschicht wurde zwar (zunächst) gerettet, dass wir aber grundsätzlich keine persistierenden Substanzen in einem gigantischen Ausmaß, wie dies für die per- und polyfluorierten Chemikalien gilt, freisetzen dürfen, wird nicht bedacht.

Wie ist die Abbaubarkeit dieser Stoffe?

Persistenz bedeutet: diese Substanzen werden weder in einer Kläranlage, auch nicht mit vier Reinigungsstufen, noch in der Umwelt abgebaut. Die auch als ‚forever chemicals‘ bezeichneten Substanzen oder deren Vorläufersubstanzen sind vor allem aus anderen Bereichen bekannt, zum Beispiel als Kältemittel in Klimageräten und in Wärmepumpen. Man sollte aber bedenken, dass inzwischen jeder dritte neu zugelassene niedermolekulare Arzneistoff mindestens eine perfluorierte Einheit enthält, die oftmals zu ‚forever chemicals‘ transformiert werden. Diese sind dann nur bei sehr hohen Temperaturen oder anderen drastischen Bedingungen, zum Beispiel Wasser erhitzt auf 374 °C bei 200 bar, zersetzbar.

Was sind die Gefahren solcher Stoffe für die Umwelt und den menschlichen Organismus?

Nach wie vor werden toxikologische Untersuchungen zumeist mit Einzelstoffen durchgeführt. Welche Auswirkungen die inzwischen komplexen und sehr unterschiedlichen Mischungen im Wasserkreislauf und der Atmosphäre auf die ebenfalls komplexen biologischen Matrizes – zum Beispiel das Mikrobiom des Menschen – haben, wurde bislang nur an wenigen Beispielen erfasst. Dabei zeigte sich, dass sowohl verstärkende wie auch abschwächende Wirkungen durch die Mischungen erreicht werden können.

Beispielhaft sei hier die Entwicklung von ‚Grenzwerten‘ für eine Substanz, die auch aus vielen Arzneistoffen hervorgeht, genannt: Während bis Ende 2016 der GOW (gesundheitlicher Orientierungswert) für Trifluoressigsäure (TFA) bei 1 Mikrogramm pro Liter Wasser lag, wurde dieser zunächst auf 3 Mikrogramm pro Liter erhöht, bevor er 2020 zu einem Trinkwasserleitwert mit 60 Mikrogramm pro Liter mutierte. Selbst der von der Industrie propagierte Wert von 120 Mikrogramm pro Liter wird inzwischen von manchen Lebensmitteln überschritten. Dies ist jeweils sehr deutlich über dem vom Umweltbundesamt angestrebten maximalen Wert von 10 Mikrogramm pro Liter Trinkwasser. Ab wann tatsächlich deutliche Schäden im Menschen oder in anderen Organismen auftreten, ist offen – dass diese aber auftreten werden, steht außer Zweifel.

Sprechen wir über Antibiotika: Die Antibiotika-Verschreibungen wurden im Zeitraum von 2011–2021 tatsächlich um 1.100 t im Jahr reduziert. Warum? Und wurden sie durch etwas anderes ersetzt?

Die angegebene Reduktion bezieht sich auf Tierarzneimittel. Ursächlich hierfür war die ab 2011 geltende Meldepflicht, die wiederum auf die bekannt gewordene übermäßige Nutzung von Antibiotika zurückging. Problematisch war nicht nur die Menge an Antibiotika (in der Tiermast), sondern nach Inkrafttreten der Meldepflicht auch die Verwendung der ‚falschen‘ Substanzen: Teilweise wurden potente, eigentlich für den Einsatz am Menschen vorgesehen Antibiotika(klassen) vermehrt verwendet, was inzwischen in die richtige Richtung korrigiert wurde. Die Verschreibung von Antibiotika als Humanarzneimittel ist zwar auch abnehmend, aber deutlich moderater. Hier gilt es darauf zu achten, dass Antibiotika, wenn sie gebraucht werden, auch eingesetzt werden – aber eben nur dann!

Neue Antibiotika sind in der Entwicklung. Gibt es hier gesetzliche Regulierungen, um die Abbaubarkeit zu verbessern?

Nein. Für die Zulassung eines Arzneistoffs als Humanarzneimittel spielen Umweltaspekte keine entscheidende Rolle. Ganz im Gegenteil: Inzwischen ist über alle Indikationen gesehen jede zweite in der Zulassung befindliche Substanz fluoriert.

Es gibt in Deutschland also keine Regulierung für die Biologische Abbaubarkeit von Arzneimitteln, nicht für bestehende Formulierungen, auch nicht für neu entwickelte?

Ja. Es gibt zwar zahlreiche Tests zur Abbaubarkeit, der mögliche Umweltaspekt wirkt sich aber rechtlich nicht aus. So gibt es ein zugelassenes antivirales Mittel, welches, wenn die Mengenangaben des Herstellers stimmen, in bis zu 100 Tonnen TFA in der Umwelt resultiert. In der Zulassungsentscheidung wird auf diesen Aspekt noch nicht einmal hingewiesen.

Werden in Deutschland vielleicht auch falsche ökonomische Anreize gesetzt?

Antiinfektiva wie Antibiotika zeigen beispielhaft, dass die Kopplung von Umsatz und Gewinn als Anreiz problematisch sein kann. Vereinfacht ausgedrückt: Je mehr Umsatz umso mehr Resistenz. Ein Einsatz von Antibiotika sollte wirklich nur erfolgen, wenn er wirklich gebraucht wird. Dies bedeutet, dass ein verantwortungsvoller Hersteller eines Antibiotikums auch Durststrecken durchstehen müsste. Gerade für neue Antibiotika, oftmals als ‚Reserveantibiotikum‘ entwickelt, resultiert dies für die Entwickler und Hersteller in Unwirtschaftlichkeit. In UK wurde vom NHS ein neues Geschäftsmodell entwickelt, welches dem Produzenten eine Abschlagszahlung unabhängig vom Umsatz des jeweiligen Antibiotikums zusichert. Damit gibt es für beide Seiten Planungssicherheit, was gerade in Zeiten von zunehmenden Lieferengpässen sich als enorm wertvoll erweisen könnte.

Ein Medikament zur Behandlung von Covid-19-Infektionen ist momentan besonders umstritten: Paxlovid. Dieses aus den zwei Wirkstoffen Nirmatrelvir und Ritonavir bestehende Medikament von Pfizer sehen Sie besonders kritisch. Warum?

Wir agieren in einer Sozialen Marktwirtschaft, in der festgelegte ‚Spielregeln‘ für alle gelten sollten. Dazu gehören unter anderem Transparenz, Konkurrenz und Kontrollmechanismen, während Monopole und Preisabsprachen bekämpft werden. Im Falle von Paxlovid sind zahlreiche Regeln umgangen oder außer Kraft gesetzt worden. So ist der Preis, den der Bund gezahlt hat, nicht bekannt. Vorgaben wie Packungsbeilage, deutsche Beschriftung oder Haltbarkeit wurden ‚großzügig‘ gehandhabt. Vollkommen zweifelhaft war die Handhabung des Dispensierrechts, die sich offensichtlich an der laut Bundesgesundheitsminister „viel zu seltenen COVID-Lebensrettung“ orientierte. Hier gilt es sicherlich aus dem, was in der COVID-19-Pandemie gut und was weniger gut lief, zu lernen, um für aktuelle und zukünftige Herausforderungen besser vorbereitet zu sein. Für Paxlovid bleibt nur zu hoffen, dass die nicht benötigten Einheiten fachgerecht (Sondermüll) entsorgt werden und eben nicht über den Umweg der ‚low and middle income countries‘ als vermeintliche Entwicklungshilfe vertrieben werden.

Stichwort Pandemie: Covid-19 ist nicht mehr als pandemisch zu bezeichnen. Die deutlich größere und langwierigere Bedrohung ist die Pandemie der Adipositas, des Metabolischen Syndroms und des Diabetes Typ 2. Sie erwähnten schon Metformin. Die Verschreibungen werden mit dem prognostizierten Anstieg der Diabetes-Erkrankungen weiter in die Höhe schießen. Wo sehen Sie die drängendsten Probleme?

Die Diabetes-Typ-2-Pandemie ist medikamentös nicht lösbar. Wenn Metformin global an Typ-2-Diabetiker:innen vergleichbar zu Deutschland als Mittel der Wahl verabreicht würde, würden 100.000 Tonnen und mehr von Metformin zumeist ungeklärt in Gewässer gelangen, mit nicht absehbaren Folgen für die Umwelt – und für das Trinkwasser! Auch alternative Antidiabetika sind hier kein Allheilmittel, ganz im Gegenteil: Wir Fachleute im Gesundheitswesen müssten viel stärker auf die Begrenztheit der Mittel und ggfs. deren Persistenz hinweisen.

Was muss sich hier ändern? Bei Ärzt:innen, Patient:innen, der Gesellschaft, der Pharmazie, der Politik?

Um die Bevölkerung vor der Typ-2-Pandemie besser zu schützen bzw. diese nachhaltig zu handhaben, gilt es u. a. auf Prävention, Aufklärung, Bildung, ausgewogene Ernährung und Bewegung zu achten, somit den Menschen eine ‚Artgerechte Haltung‘ zu ermöglichen. Eine Zuckersteuer könnte mehr bewirken als die vermeintliche Lösung durch Medikamente. Auch hier gilt, dass die Monopolbildung im Lebensmittelsektor zu bekämpfen ist und vielmehr auf Diversität, sowohl marktwirtschaftlich wie auch in Bezug auf das Saatgut, gesetzt werden sollte.

Was können Ärzt:innen in Ihrem täglichen Handeln verändern, um den negativen Einfluss chemischer Medikamente zu reduzieren?

Die Pharmazie sollte ihre Bedeutung als wichtiges Mittel in der Behandlung von aktuellen und zukünftigen Krankheiten beibehalten, und eben nicht als vermeintliche Lösung für gesellschaftliche Probleme herhalten. Es gilt den Blick nicht auf die Medikamente alleine zu lenken, sondern die derzeitigen desaströsen Voraussetzungen anzugehen und stattdessen eine menschliche Lebensweise zu ermöglichen.

Die aktuellen Herausforderungen sind aber alles andere als hilfreich: seien es die zunehmende Umweltverschmutzung und -zerstörung, der Verlust der Biodiversität und der Anbauflächen, die Klimakrise, das Ernährungs- und Wasserproblem, ganz zu schweigen von den Kriegen und Migrationsbewegungen mit all ihren katastrophalen psychologischen Folgen.

ICD-Codes: U81
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